Türkische Literatur i- Recaizade Mahmut Ekrem: Leidenschaft in Camlica

Recaizade Mahmut Ekrem:

Leidenschaft in Çamlıca

 

Roman
261 Seiten

Aus dem Türkischen und Nachwort.
Beatrix Caner

ISBN 978-3935535335
16,80 EUR

 

EIN MEISTERWERK DER FRÜHEN TÜRKISCHEN ROMANKUNST:
ARABA SEVDASI
- Leidenschaft in Çamlıca

Der Roman Araba Sevdası von Recaizade Ekrem ist - neben seiner natürlichen Rolle als literarisches Werk - ein bezeichnendes Beispiel dafür, wie durch erneute Betrachtungen nach beinahe 100 Jahren neue, für den heutigen Leser spannende Interpretationen entstehen können. Das ist per se ein Plädoyer für die Beschäftigung mit der älteren literarischen Tradition.
Eine erste, treffende Würdigung dieses Romans vom Ende des 19. Jahrhunderts stammt aus der Feder Ahmet Hamdi Tanp
ınars, der auf einige Charakteristiken hingewiesen hat und der die parodistischen, ironischen und unterhaltsamen Züge unterstrich. Tanpınar entdeckte als erster "eine starke Anti-Poetik" in diesem Roman. Er sah darin eine literarische Antwort sowohl auf beliebte türkische Werke (insbesondere nahm er Stücke von dem berühmten Bühnenautor Hamid auf die spitze Feder), als auch auf einige europäische Autoren (z. B. Lamartine).
Auch die amüsiersüchtige und zwecklose Vergeudung des ansonsten sinnentleerten Lebens manch eines Neureichen, der für diese Zeit so ty
pisch geworden war, sieht Tanpınar im Rahmen einer umfangreichen Gesellschaftskritik eingebunden. Unübersehbar aber vor allem ist jene Spaltung, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die türkische Gesellschaft erlebte. Tanpınars zieht daraus den Schluss, dass das Werk eine antiromantische Haltung des Literaten Ekrem manifestiert.

STILMITTEL "BEWUSSTSEINSSTROM"

Nachdem dieser Roman fast ein Jahrhundert lang als "abgehandelt" galt, hat Prof. Dr. Berna Moran die Schreibtechnik einer gründlichen Analyse unterzogen. Er stellte als erster fest, dass Ekrem für die Beschreibung der Hauptfigur verschiedene und vor allem eine weltweit neue Technik benutzt hat. Der Wechsel der Erzählperspektive ist ein handwerkliches Mittel, das für die türkische Literatur damals völlig neu war. Die erste Perspektive: Als Autor, in dritter Person, beschrieb Ekrem die Hauptfigur Bihruz Bey als wissender Beobachter von außen. Bei der zweiten Perspektive, der inneren Schilderung in erster Person, “ich”, verwendete er allerdings weitere zwei Methoden: Zum einen den inneren Monolog, bei dem volle und grammatisch korrekte Sätze die Gedanken Bihruz Beys wiedergeben. Zum anderen den Bewusstseinstrom. Diese Technik, die in der europäischen Literatur erstmalig 1887 verwendet, jedoch nicht sofort entdeckt wurde, kann Ekrem nicht gekannt haben, zumal er seinen Roman 1886 geschrieben hat. Berna Moran bedauert in diesem Zusammenhang, dass von den eigentlich zuständigen Fachleuten, den Turkologen, nicht erforscht wurde, dass Ekrem diese neue Technik in die Literatur eingeführt hat. Ebenso bedauert er, dass türkische Literaten der Zeit von dem Schreibstil Ekrems nicht beeinflusst wurden.

DIE KUNST DES VERSTEHENS

Nach der technisch geprägten Analyse Berna Morans gelang es der Literaturwissenschaftlerin Jale Parla eine fesselnde und zugleich tiefgehend "enthüllende" Wertung des Romans in den Raum zu stellen und damit ein Meisterwerk neu und richtig zu definieren. Sie führt wissenschaftlich und unterhaltsam aus, wie jedes Wort, jede Aussage in diesem Roman eine Parodie auf bestimmte Werke der Weltliteratur sowie auf die damalige türkische Literatur sind, und gleichzeitig eine Parodie der Lebensweise der jungen, plötzlich reich gewordenen osmanischen Erben jener Zeit, deren Lebenssinn sich in der Nachäffung europäischer Verhaltensmuster erschöpfte. Eine philosophische Idee, die in dieser Ära des Verfalls sichtbar wurde, kommt zum tragen: Alles, was früher einen traditionellen Wert hatte, ist jetzt wertlos, Nichts. Alles zerrinnt zum sinnentleerten Nichts, wenn auch nicht sinnlos aber doch ohne tieferen Sinn. Alles Tun dieses modernen Handelns stellt Ekrem in Frage, sie halten einer ernsten Betrachtung nicht stand, sondern sie versiegen in seiner Hand. Von diesem neumodischen Leben bleibt keine Spur zurück, sie schaffen keine neue Lebenskultur. Alles ist eine leere, verlogene Fassade, bis hin zum wirklichen Leben und zum eigenen Roman! Laut Jale Parla ist der Roman eine Parodie des Schreibens und des Lebens - in beiden Bereichen sind Handlungen zu Taten- und Wirkungslosigkeit verurteilt. Jede Nachahmung bleibt eine Farce und jedes Gefühl gerät zu alberner Gefühlsduselei, jeder Traum wird zu Nichts - all dies vor der Kulisse des Denkchaos dieser morbiden neuen Zeit am Ende des 19. Jahrhunderts. Bihruz Bey ist nicht in der Lage sein eigenes, türkisches Leben zu leben, er bildet sich ständig ein, gerade diese oder jene Figur eines gelesenen europäischen Romans zu sein. Mal steht er unter dem Einfluss von Manon Lescaut, mal von Graziella oder der Kameliendame. Deshalb glaubt er, dass die Frau, in die er sich verliebt hat, nicht an Typhus gestorben sein kann, denn "solch edle Körper sterben nur an Siechtum", also muss sie an Tuberkulose gestorben sein. Während er die eigene, türkische Sprache nur als grob empfindet und der Ansicht ist, diese sei für Poesie nicht geeignet, spricht er das Französische falsch, plump und primitiv, die Worte verlieren ihren Sinn. Er huldigt europäischen Sprachen und steht Europäischem kritiklos gegenüber, gleichzeitig tritt er Schätze aus der osmanischen Kultur mit den Füßen, weil er sie nicht versteht und nicht kennt. Diese Konstellation, die durchaus realistisch ist, bietet dem Autor viel gutgenutzten Raum für verbale und situative Komik. Zahlreiche Details entblößen die oberflächliche Bildung Bihruz Beys - auch wenn er dies mit dem Französischen zu kaschieren versucht, was ihn nur doppelt lächerlich macht: In seinem Bücherregal steht zum Beispiel Rousseaus „Nouvelle Héloise“ neben "Secretaire des Amants" - wertvolles neben banales. Die Figuren reden nebeneinander her - mehr als nur Situationskomik ist darin verborgen -, Türkisch und (vermeintliches) Französisch sowie die jeweils anderen "Sprachen" der verschiedenen Schichten und Welten.
Kommunikation kommt nicht zustande, weil durch die Sprache, durch die Wörter, keine gemeinsame Basis zu finden ist. Und beinahe unbemerkt, in einem einzigen Satz, konzentriert sich die Hauptaussage des Romans (der Wittgensteins Gedanken vorw
egnimmt): "Die Worte bilden nicht die Dinge ab."
Den Betrachtungen Parlas kann die Kulisse der Ära hinzugefügt werden - die Ekrem sicher auch impliziert hat -, vor der ihre zutreffenden Betrachtungen einen noch tieferen Sinn erlangen: Das neu aufkommende merkantilistische System, dem es gelingt den Menschen zu passiven, kritik- und zwecklos konsumierenden Marionetten, und das Leben zu einer diffusen, verklärten und hohlen Attrappe zu machen.

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