Nurdan Gürbilek: Die Literatur »infantiler« Länder

Heldenwahl und Stammesmärchen


Die »Erste Welt« ist nicht nur verantwortlich, weil sie andere Kulturen infantilisiert und ignoriert und ihre Literatur jenseits der »Weltliteratur« ansiedelt. Sie macht diese auch zu Gefangenen von Reaktionismus und reduziert jede existentielle Besorgtheit, die dortige Autoren in gleich welcher literarischer Form zum Ausdruck bringen, zu einer stereotypen Sorge des »Identitätsverlustes« - sie degradiert sie zur Sorge um die »nationale« Identität. »Finde dich selbst, finde selbst deinen Geist, finde, liebe, wisse, erinnere und siehe selbst, zurück zu dir selbst, betrachte dich selbst, sei du selbst.« Dass dieses »Selbst« vom nationalen »Selbst« als nicht separiert vorausgesetzt wird und größtenteils außerhalb schriftstellerischer Bemühungen um gesellschaftliche Belange ohne einen Schutzraum dasteht, ist ein impliziertes Problem.

Fredric Jameson hat die These aufgestellt, dass Romane der »Dritten Welt« zwingend »nationale Allegorien« sind und als solche gelesen werden müssen. Der Satz, den sogar er selbst für verwegen hält, lautet: »Ich behaupte, dass alle Texte der Dritten Welt auf eine sehr eigene Weise unanfechtbar allegorische Texte sind. Auch wenn diese Texte, vorwiegend Romane, sich aus den dort vertretenen Mechanismen des Westens nähren - insbesondere aber, wenn sie wissentlich auf diese Mechanismen basierend entstehen -, müssen sie als nationale Allegorien interpretiert werden.« Diese These wird von einer weiteren These untrennbar begleitet: die bestimmende Differenz kapitalistischer Kultur (private und öffentliche, literarische und politische Bereiche betreffend, Sexualität und Un- bewusstes sowie die Differenz zwischen den gesellschaftlichen Schichten und in der Wirtschaft) wurde in der Dritten Welt nicht realisiert. Aus diesem Grund werden psychologische Phänomene dieser Gesellschaften auf augenfällige Art und Weise in der soziologischen Terminologie zum Ausdruck gebracht. Um es anders auszudrücken: die individuelle Erfahrung gilt immer als die Allegorie kollektiver Erfahrung. »Sogar Texte aus der Dritten Welt, die weitgehend intim sind und über die nötige libidinale Dynamik verfügen, basieren auf einem politischen Entwurf in Form nationaler Allegorie; das Schick- sal individueller Romanfiguren ist ausnahmslos Ausdruck gemeinschaftlicher Kämpfe, angesiedelt in den Kulturen und Gesellschaften der Dritten Welt.« Intellektueller in der dritten Welt zu sein, bedeutet laut Jameson, vor allem »politischer Intellektueller« zu sein. Beginnen wir damit, dass diese These, die sowohl eine Feststellung (alle Texte der Dritten Welt sind zwangsweise auf eine sehr eigene Weise allegorische Texte), als auch eine Leseanweisung ist (alle Texte der Dritten Welt müssen als nationale Allegorien interpretiert werden), mit dem Ziel ent- wickelt wurde, die kulturelle Differenz der Dritten Welt zu erklären. Tatsächlich will Jameson auf die radikale Andersartigkeit der Textproduktion in der Dritten Welt, die die Leser der Ersten Welt als anachronistisch oder sogar als naiv einstufen, hinweisen: Er will den Wert der Literaturen, die akademische Kreise in Amerika nicht zum Kanon der Weltliteratur zugehörig finden, vermitteln und aufzeigen, dass die Reaktionen des Westens diesen Texten gegenüber kulturell bedingt sind. Kurz: er will die Lesegewohnheiten westlicher Leser relativieren. Dabei ist Jameson auch bestrebt, einen Ausweg aus der Isoliertheit amerikanischer akademischer Kreise zu weisen. Jameson ist ein Marxist - sein Ziel ist es, die Idee der »Ganzheit« in die auf atomisierte Subjektivität basierende Literatur der Ersten Welt wieder einzuführen. Er möchte die Allegorie, die in der Ersten Welt ihren Wert eingebüßt hat, wieder beleben, dafür sorgen, dass allegorische Strukturen in diesen Werken dechiffriert werden und schließlich durch die Idee der Ganzheit das politische Denken und die Literaturkritik beleben. Laut Jameson verfügen die Texte der Dritten Welt über genau diese Eigenschaften (sie bewahren die Idee von der gesellschaftlichen Ganzheit, beinhalten politische Aussagen und haben eine allegorische Struktur) und sind deshalb ein »Erste- Hilfe-Kurs« für westliche Literaturen. Zusammen mit den Erkenntnissen aus Überlegungen über die »kulturelle Differenz« ist die These der »nationalen Allegorien« auch deshalb von Bedeutung, weil sie mögliche Fallen erkennbar macht. Ich werde an dieser Stelle nicht dar- auf eingehen, dass diese These die augenfällige Ungerechtigkeit zwischen der Ersten und der Dritten Welt auf interpreta- tiver Ebene neu initiiert, dass sie die Literaturen vieler unterschiedlicher Länder unter dem Begriff »Literatur der Dritten Welt« zusammenfasst und für den westlichen Leser verständ- lich zu machen versucht. Und dass sie sogar bei der Betonung der Andersartigkeit anderer Kulturen durch altbekannte Mu- ster lediglich vorhandene Vorurteile neu strukturiert. Ebenso, dass sie, während sie dem europazentristischen Universalismus widerspricht und die Differenz der Kulturen beschreibt, einer neuerlichen kulturellen Diskriminierung Tür und Tor öffnet. Und schließlich: Wie sie die grundsätzliche Segregation, Basis des Orientalismus, dieses Mal durch die These »Literatur der Dritten Welt« wieder in den Kreislauf einbringt. Denn darüber wurde bereits diskutiert. Ich werde mich an dieser Stelle mit folgender Feststellung begnügen: Goethes berühmtes Ideal der Weltliteratur beinhaltet eine offenkundige Arbeitsteilung, die nicht nur in der Literatur, sondern in der Welt an sich begründet wird. Der türkische Leser liest Cervantes, Shakespeare oder Dostojewski nicht, um Spanien, England oder Russland zu verstehen, sondern, um sich selbst als Teil des universalen Geistes, in dem Maße, in der er sich selbst als Teil dessen definiert, zu begreifen. Der westliche Leser aber liest Ahmet Hamdi Tanpinar, Oguz Atay oder Yasar Kemal, um eine andere als die eigene Kultur zu verstehen - um es mit einem heutigen Ausdruck zu sagen: um »un- terschiedliche Geschmäcker der Weltküchen« zu entdecken. Warum sonst wurde Latife Tekins »Lieber frecher Tod« unter dem Titel »Das türkische Taschentuch« (El pueño turco) in Spanien publiziert - also als eine türkische Allegorie? Warum wird Orhan Pamuk in allen Reportagen außerhalb der Türkei zu einem Ost-West Konflikt befragt und warum versteifen sich die Fragenden auf das Thema »Islam«?
Solange Ungerechtigkeit in der realen Welt existiert, solange die gleiche Welt nicht nur in ungleiche Teile - wie gutmütige Theoretiker es gerne sehen wollen -, sondern gleichzeitig auch auf ungerechte Weise gespalten ist, wird sogar die einfühlsamste Theorie zu dieser Ungerechtigkeit beitragen. Subtil wird dann immer die Idee des »bon pour l'Orient« wirksam bleiben. Genau wie in den möglichen Antworten Jamesons stets ein Stolz des Bedürftigen und eine - wenn auch im engsten Sinne keine nationalistische, so doch eine ihm verwandte - kulturelle Reizbarkeit verborgen ist.

Türkische Literatur
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