“Denn ich schreibe, der Folgen bewusst …”
von Beatrix Caner © - ALLE RECHTE VORBEHALTEN
"Ein Buch spricht seine eigene Sprache, findet seinen eigenen Weg. Wenn es das nicht tut, verschwindet es." - sagt Rabbi Yakup, eine der Hauptfiguren im Roman Spiegel der Stadt.
Als Elif Shafak 1997 in der Türkei mit ihrem Debutroman Pinhan in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des breiten Publikums rückte, ihr Buch also seine eigene Sprache zu sprechen und sich seinen eigenen Weg zu bahnen begann, konnte man nicht ahnen, dass die in beinahe jährlichem Rhythmus aufeinander folgenden Romane der jungen Autorin sehr bald als Meilensteine einer neu aufbrechenden türkischen Moderne gelten würden. Die Autorin selbst, die überwiegend im westlichen Europa aufwuchs, wurde in kurzer Zeit eine der wichtigsten Repräsentantinnen der jüngeren, über die Landesgrenzen hinauswachsenden Literaturszene der Türkei. Die überraschend verliehene Auszeichnung der türkischen Mewlana Gesellschaft würdigte den islamische Mystik thematisierenden Roman 1998 mit dem Hauptpreis und sicherte der Autorin die Aufmerksamkeit aller Gruppen des ansonsten tief gespaltenen türkischen Lesepublikums und der Literaturszene.
Die 1971 in Straßburg geborene Elif Shafak ist in der Türkei inzwischen eine Kultautorin geworden. Auch in den USA, wo sie in den letzten Jahren zeitweise lebt, hat sie sich in kurzer Zeit als Wissenschaftlerin und Literatin einen Namen gemacht, und sie publiziert regelmäßig in renommierten amerikanischen Zeitschriften soziokulturelle und politisch-philosophische Texte. Ihre Romane werden in zeitlich kurzen Abständen weltweit verlegt, und sie hält überall auf der Welt Lesungen und Vorträge. Auch in Europa zieht sie Aufmerksamkeit auf sich und auf ihre Werke, und ihre Romane erscheinen außer in Deutschland auch in England, Frankreich und Griechenland.
Woran mag der ungewöhnliche Erfolg der jungen Autorin liegen? Diese Frage ist angesichts der ideologischen Hintergründe des als fortschrittlich geltenden Teils der türkischen Literaturszene besonders spannend, denn markante Themenschwerpunkte Shafaks - wie in diesem Roman: osmanische Geschichte, islamische Mystik und Judentum - wurden in den vergangenen Jahrzehnten von diesen Vertretern der türkischen Literatur weitgehend ausgeklammert, in den letzten Jahren wiederum, geradezu zustimmend zum "Kampf der Kulturen", häufig innerhalb der Koordinaten eines West-Ost-Gefälles abschätzig gewertet, mehr als kritisch dargestellt. Demgegenüber stand und steht eine konservative Gruppe, die die osmanische Geschichte glorifiziert und jede kritische Annäherung abblockt. Elif Shafak aber, die in Europa aufwuchs und deshalb nicht mit dem internen türkischen Blick, sondern aus der Distanz einer Außenstehenden auf diese Bereiche schauen kann, geht in diesem Roman an solche sensiblen Themen unbefangen, vorurteilsfrei und mit dem Bewusstsein, das Erhaltenswerte erhalten zu wollen, heran. Für sie sind sowohl die historischen Gegebenheiten, als auch die Gepflogenheiten von islamischen Mystikern in erster Linie wissenschaftliches Forschungsgebiet, aus ihren akademischen Ergebnissen und Kenntnissen kristallisiert sie die literarische Vorlage: sie dient als adäquate Kulisse eines authentischen Erzählstoffs. Überdies bricht Elif Shafak ein weiteres Tabu: sie benutzt häufig Begriffe, grammatische Konstruktionen und sprachliche Wendungen der nicht nur als veraltet empfundenen, sondern vor allem aus ideologischen Gründen von einem Teil der türkischen Autoren rigoros abgelehnten, osmanischen Sprache. Doch entgegen aller Erwartung entsteht aus dieser Mischung, die in der Türkei durchaus als explosiv gelten kann, keine undifferenzierte Vergangenheitsglorifizierung, keine konservative Werteverklärung, sondern eine lebendige und moderne, spürbar heutige Weltvorstellung, gleichzeitig eine neue, gelungene Anknüpfung an die gegenwärtige Weltliteratur.
Elif Shafak selbst sieht ihre Position in der türkischen Literatur von der literaturhistorischen Warte aus sehr klar. Sie ruft in Erinnerung, dass die türkische Moderne sich meist in der Pflicht der Aufklärung der Massen sah, weshalb sie das Hauptgewicht bis heute auf die selbstauferlegte Mission des Lehrens, auf erzieherische, deshalb mitunter steif und lebensfern wirkende, im Duktus recht kategorische Romane legte. Die türkischen Autoren, die diese Verpflichtung verinnerlichten, hätten nicht frei, nicht aus dem Chaos heraus und schöpferisch geschrieben, ließen sich nicht von der Gefühlswelt inspirieren, sondern folgten einer ideologisch untermauerten, vermeintlichen Vernunft, setzten auf Belehrung und Nüchternheit. Sie waren bemüht, eine neue Welt nach eigenen Vorstellungen zu schaffen und in der Gesellschaft zu etablieren – so Shafak. Sich auf eine Untersuchung der türkischen Literaturwissenschaftlerin Jale Parla beziehend, unterstreicht Shafak, dass ein Großteil türkischer Autoren die Position des Romanciers mit der der Vaterfigur gleichsetzte. Diese Schriftsteller betrachten und behandeln sowohl ihre Leser, als auch ihre Romanfiguren bis heute aus dieser Autoritätshaltung heraus und versuchen deshalb über Leser und Figuren eine totalitäre Macht zu errichten. Sie lassen sich nicht vom Roman, von dem natürlichen Fluss der Ereignisse treiben, sondern konstruieren ein Werk nach einem vorher festgelegten Plan. Shafak sagt: "Sie sind Väter ihrer Romane, und ihre Romane sind von zäher Konsistenz. Sie fließen nicht, sie stehen lediglich da.
Sie reißen den Leser nicht mit. Wenn man die Entwicklung der türkischen Literatur betrachtet, sieht man deutlich, dass die meisten Romane aufgrund einander ähnlicher, detailgenauer architektonischer Berechnungen und von der Vaterschaftssehnsucht geleitet, geschrieben wurden."
Nach der eigenen literarischen Verortung befragt, gibt Elif Shafak substantielle Einblicke in ihre Poetologie. Ihren ästhetischen Ausgangspunkt sieht sie, trotz ihrer konsequenten wissenschaftlichen Tätigkeit, kaum theoretisch, vielmehr definiert sie ihren Schöpfungsakt als intuitiv. Sie sagt: "Für mich ist der Roman eine Ordnung, die aus dem Chaos entsteht, entstehen kann. Eine vom Chaos genährte Ordnung oder auf Todesangst gründende Lebensgier oder aber das Bewusstsein vom Nichts, das in der Lebens- und Schöpfungssehnsucht mündet. Kurz gesagt, Gegensätze motivieren mich zu Taten. Gegensätze in mir, Gegensätze im Leben…
Ich denke, dass hinter meinem Entschluss, den Roman als Gattung zu wählen, der "Wunsch, die Gegensätze zum Ausdruck zu bringen und die Sprache in ihre Gegensätze zu zerlegen", steckt. Obwohl meine Romane sich sprachlich, strukturell und inhaltlich unterscheiden, sind sie von der gleichen Sehnsucht gemeißelt. Deshalb schreibe ich mosaikhafte, verästelte und vielstimmige Romane. Romane, die nicht von einer einzig gültigen, absoluten Wahrheit ausgehen. Mein Weg unterscheidet sich von der Tradition der Autoren mit dem Vaterstatus und den zähflüssigen Romanen."
Doch niemand schöpft aus dem Nichts, niemand steht ohne Vorgänger da. Auch Shafak bekennt sich zu den geistigen Vätern, zu den denkerischen und literarischen Wegweisern. Auf die zentralen Namen und Aussagen konzentriert und in Einheit mit ihrer traditionsbewussten Sprache gesehen, ergeben die Aussagen Shafaks über ihre Vorbilder eine mehr als nur intuitive, eine wahrhaft fundierte, gut bedachte und ethisch ausgereifte Leitidee ihrer literarischen Arbeit. Während Walter Benjamin für sie eine denkerische Basis bedeutet, steht Ahmet Hamdi Tanpınar als literarischer Grundstein im Mittelpunkt ihres schriftstellerischen Werdens. Beide Namen sind überaus symbolträchtig und stehen für eine bestimmte geistige Haltung - Benjamin, dank seiner Bekanntheit, global, Tanpınar wegen der unverzeihlichen Vernachlässigung, vorerst nur innerhalb der Türkei. Die geistige Haltung dieser beiden Genies basiert auf der Synthese von Wissen, Kunst, Mystik, Natur und Kultur. Nur in der humanen, gleichberechtigten Nutzung dieser Synthese für die ganze Menschheit wäre eine sinnerfüllte Zukunft begründbar.
Benjamins Haltung zu Tradition, Religion und Mystik verinnerlichte Shafak geradezu als Grundprinzip: "Benjamin ist ein Denker, den ich für sehr bedeutend halte. Er ist kein Mystiker, doch beherrscht er die Sprache der jüdischen Mystik perfekt. Er betrachtet die Welt vom Standpunkt des kritischen Materialisten, aber er erkennt den Wert der althergebrachten Sprache an, mehr noch, er spricht diese Sprache, er beherrscht sie. Atheist zu sein, Agnostiker zu sein, heißt nicht, dass man seine Religion nicht kennen sollte… Ich denke, dass eine kulturelle Kontinuität, wie sie bei Benjamin gegeben ist, sehr wichtig ist. Wir sind eine Gesellschaft, die die Grabsteine ihrer Großväter nicht entziffern, nicht lesen kann, und das verschafft uns nicht den geringsten Vorteil."*
Die literarische Besinnung Shafaks auf Ahmet Hamdi Tanpınar erscheint in Bezug zu Benjamins Haltung nur allzu konsequent: "Literatur ist, glaube ich, irgendwo auch "Spurensuche". Schreiben als Spurensuche aufgrund von Assoziationen. In dieser Hinsicht gelangen wir bei Proust und bei Tanpınar durch ein Netz von Assoziationen sowohl in die Vergangenheit, als auch jenseits der Realität, und das empfinde ich als mir sehr nahe stehend."
Ahmet Hamdi Tanpınar hat wie kein anderer in der türkischen Literatur die einzigartige kulturelle Synthese, die in Istanbul in Jahrhunderten entstanden war, nach einer höchst poetischen Spurensuche, als ästhetisch unübertroffene Qualität, zugleich Istanbul selbst als einen ehemals geradezu idyllischen Raum zum Leben dargestellt. Tanpınar beschreibt Istanbul als eine Stadt der aufeinander geschichteten Kulturen, der aufeinander aufbauenden Zeiten, die aber von den heutigen Menschen nicht erkannt und deshalb gedankenlos zerstört wird. Dass Elif Shafak diese Stadt auch mit den Augen Tanpınars sieht, zu sehen in der Lage ist, gibt sie in einer Schilderung preis, die davon zeugt, dass sie seine Werke sehr genau kennt: "Um ehrlich zu sein, nehme ich die Vergangenheit nicht als einen abgeschlossenen Zeitraum wahr. Ich denke, dass die Vergangenheit mitten im Heute lebt und unser Morgen gestaltet. Insbesondere um eine Stadt wie Istanbul zu begreifen, ist es unerlässlich, dieses Ineinandergreifen der Zeiten zu erkennen. In dieser Stadt leben die Toten und die Lebenden nebeneinander. Nirgendwo sonst auf der Welt sind Gräber und Friedhöfe so mitten in der Stadt wie in Istanbul."
Die Betrachtungen der türkischen Sprache runden das ästhetische Verständnis Shafaks ab: "In der Frage der Verwendung von osmanischen Ausdrücken denke ich, dass es viel zu viele Vorurteile und Polarisierungen gibt. […] Was mich und meine Muttersprache betrifft, so wurden wir im zarten Alter voneinander getrennt.* Vielleicht weil ich die Gefahr erkannt hatte, meine Muttersprache zu verlieren, kenne ich ihren Wert viel besser als die meisten Menschen, und weiß, was ihr Verlust bedeuten könnte. Einige Phasen meiner Kindheit hatte ich im Ausland verbracht. Das Türkische habe ich zwar nie vergessen, aber es gab eine Zeit, als es mir fremd wurde. Die Sprache ist mir sehr wichtig."
Auch Kritiker halten in erster Linie die Sprache der Autorin für sehr bemerkenswert. So schildert der Kritiker Cem Erciyes ihren Umgang mit der türkischen Sprache: "Das deutlichste Markenzeichen Elif Shafaks ist ihre Sprache. Als sie ihre Muttersprache von Neuem entdeckte und eine enge Beziehung zu Wörterbüchern knüpfte, nährte auch das darauf folgende Studium der Religionsgeschichte und des Sufismus ihre an Märchen erinnernde Sprache. Sie verwendet aus alten Zeiten aufgetauchte Worte, von denen wir glaubten, sie wären in der Sprache des Alltags oder in veralteten Büchern sicher eingemauert. Sie benutzt eine gesättigte Sprache, die ihre eigenen Sinnbilder erschafft, Sätze, die ihr Bedeutungsnetz selbst flechten. All das tut sie so, dass man zu sagen geneigt ist "gut, dass ich kein Schriftsteller bin, sonst würde ich vor Neid erblassen". Deshalb können Sie die Romane Elif Shafaks an beliebiger Stelle aufschlagen und zu lesen beginnen. Der Genuss ist sicher. Aus dem gleichen Grund aber kommt man nicht umhin, sich zu fragen, wie weit der Roman überhaupt ein "Roman" ist. Als wäre die Autorin von der Beziehung, die sie mit der Sprache eingegangen ist, so verzaubert, dass sie nur schreibt, um diese schönen Worte sagen zu können. Als gäbe es den Aufbau, die Ereignisse und die Menschen nur, um die Sprache einen ganzen Roman lang verwenden zu können."
Gerade der Roman Spiegel der Stadt entfaltet sich auf dieser Basis: Eine Sprache, die sich auf Eingemauertes und Verdrängtes besinnt, eine Haltung, die die Tradition kennen und anerkennen will, eine Wahrnehmung, die im Heute das Gestern und das Morgen sieht - ist das die Mischung, die Elif Shafak zum Erfolg geführt hat? Welcher Sinn verbirgt sich dahinter? Was ist die Quintessenz all dessen? Was fasziniert die türkischen Leser daran? Wie soll man diese Matrix dechiffrieren?
Mir scheint, Elif Shafaks Fragestellung im Spiegel der Stadt mündet in einen Fragenkomplex um eine türkische Identität, an dem kein türkischer Intellektueller wird vorbeigehen können. Tief in ihrem Inneren scheinen sowohl die türkischen Leser als auch die türkischen Kritiker zu spüren, dass Shafak ihre Augen auf die eigenen Wurzeln richtet, ihnen den verschütteten Gang zu ihrem kulturellen Erbe, den schon Tanpınar freizulegen begonnen hatte, frei schaufelt.
*Damit spricht sie die Problematik des Osmanischen an, das in arabischen Schriftzeichen geschrieben wurde und das kurz nach der Staatsgründung der Türkischen Republik 1923, per Gesetz abgeschafft wurde. Danach wurde zum einen das lateinische Alphabet eingeführt und zum anderen wurden Hunderte von Wörtern durch europäische Ausdrücke ersetzt. So hat sich die türkische Sprache in kurzer Zeit so radikal verändert, dass heutige Generationen die vor kaum einem Jahrhundert entstandenen Werke nicht mehr lesen und verstehen können.