Prof. Dr. Klaus Kreiser & Dr. Patrick Bartsch (Hrsg.):
Türkische Kindheiten
Anthologie - Memoiren türkischer Prominente
280 Seiten, broschiert
EAN: 978-3935535274 24,00 EUR
“Wenn türkische Autoren und Autorinnen auf ihre Kindheit und Jugend vor der Gründung der neuen Türkei zurückblicken, erzählen sie von einer Welt, die stärkere Umbrüche erfahren hat als die meisten Teile Südosteuro-
pas und des Nahen Ostens.”
Mit dieser besonders zutreffenden Feststellung leitet Prof. Dr. Klaus Kreiser, ein hervorragender Kenner der modernen Türkei, eine bislang einmalige Anthologie aus Kindheitserinnerungen herausragender türkischer Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur und Politik ein. Die Palette der ausgesuchten Autorinnen und Autoren reicht von konservativen, national gesinnten Politikern bis zu linksgerichteten Künstlern - und so prominent diese sind, sind auch die Übersetzer der Texte prominent: namhafte Experten, die als die besten ihres Faches gelten. Dank dieser glücklichen Fügung werden deutsche Leserinnen und Leser eine besonders kompetente und zugleich aufschlussreiche Reise in die Lebenswelten von Menschen, von denen die meisten ihre Kindheit und Jugend vor beinahe einem Jahrhundert gelebt haben, unternehmen können und dabei Privates und Politisches, aber auch Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven kennen lernen können.
Als Verlag danken wir an dieser Stelle nochmals für die großartige Arbeit der beiden Herausgeber, Prof. Dr. Klaus Kreiser und Dr. Patrick Bartsch, ebenso den Übersetzerinnen und Übersetzer, die mit Herzblut an dieser gelungenen Arbeit beteiligt waren. Ebenso danken wir allen Autorinnen und Autoren bzw. ihren Nachkommen, die uns die Publikation dieser Arbeit durch ihre Zustimmung ermöglicht haben.
Dank gebührt auch dem Türkischen Ministerium für Tourismus und Kultur, durch dessen Förderung diese Publikation erscheinen konnte.
Aus der Einleitung von Prof. Dr. Klaus Kreiser:
“Die Berichte reichen von der Regierungszeit des Sultan Abdülaziz (1861-1876) bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Trotz beachtlicher Reformanstrengungen nach westlichen Vorbildern erlitt das Osmanische Reich in diesen Dekaden große territoriale Verluste. Nach der Aufgabe fast aller europäischen Provinzen in den Balkankriegen (1912/1913) trat es 1914 an der Seite der Mittelmächte in den Weltkrieg ein. Der nach der vollständigen Niederlage von den Siegermächten diktierte Frieden von Sèvres (1920) wurde von der Sultansregierung unterzeichnet, aber von Mustafa Kemal (Atatürk, 1881-1938) und seinen Mitstreitern im anatolischen Widerstand zurückgewiesen. Die Kindheit der Mehrzahl unserer Autoren und Autorinnen endete vor dem historischen Sieg der Türken über das griechische Invasionsheer und vor der Ausrufung der Republik Türkei (1923). Allein der Auszug aus der Autobiographie der als „Russlandtürkin“ geborenen Süreyya Ağaoğlu reicht bis in ihre Hochschuljahre und erste Berufserfahrungen als Rechtsreferendarin in Ankara (1924/25). So wird eine Brücke in die Zeit der jungen Republik aus der Sicht einer glühenden Patriotin und Reformerin geschlagen. (...)
Nicht alle Kindheitsbiographien spielten sich innerhalb eines engen geographischen Umkreises ab. Hâzim Tepeyran durfte schon als Kind große Teile Anatoliens kennen lernen. Der weitere Horizont des Reiches wird in Familienschicksalen sichtbar, wenn von den osmanischen Kriegen in Thessalien, Tripolitanien und im Jemen oder der Auswanderung aus den Balkanländern die Rede ist. Sevket Süreyya Aydemir hat das untergehende Reich nur auf der Schulwandkarte intakt erlebt:
„Auf den Karten, die in den Klassenzimmern hingen, war das Gebiet dieses großen Reiches hell rosa markiert. Es kam mir so groß wie die Welt vor und war mir trotzdem noch zu klein. In Afrika gehörten dazu bis zur Sahara hinunter Tripolis und die Cyrenaika sowie Ägypten und der Sudan bis nach Abessinien. Sogar das Fürstentum Tunis war rosa umrandet, was bedeutete, dass es sich dabei um eine Art Protektorat handelte. Ferner gehörten uns der Jemen und die ganze arabische Halbinsel bis zum Indischen Ozean Desgleichen lagen auf unserem Gebiet der Irak, Syrien, die Sinai-Halbinsel und schließlich ganz Anatolien bis hin zur iranischen und russischen Grenze. Neben Kreta, Zypern und den Ägäis-Inseln gehörten zu unserem Staat auch alle thrakischen Provinzen. Auf dem Balkan war die Hälfte Bulgariens mit einer Protektoratslinie als unsrig gekennzeichnet. Jenseits von Makedonien und Albanien war auch Bosnien-Herzegowina rosa eingefärbt, so dass die Reichsgrenzen bis an die Save und nach Dalmatien reichten.“(...)
Die Auswahl unserer Stücke ist gewiss nicht „repräsentativ“ für die türkische Gesellschaft der Epoche. Auch bei einem mehrbändigen Unternehmen ließe sich dieser Anspruch nicht erfüllen: Das Verfassen von Erinnerungen bleibt in der Türkei wie in anderen Ländern dieser Welt Menschen vorbehalten, für die Schreiben und Lesen von Kindheit an eine tägliche Übung war. Ein gemeinsamer Nenner ist – mit Ausnahme von Margosyan – die Herkunft aus der Mittelklasse der osmanischen Gesellschaft, die dafür gesorgt hatte, dass ihre Kinder die Brücke in den Nationalstaat begehen konnten. Drei Autoren (Filmer, Ertugrul und Ucuk) erreichten ein sehr hohes Lebensalter und sind schon deshalb wahre Jahrhundertzeugen. Da aber die meisten Verfasser bei der Niederschrift Jahrzehnte von ihrer Kindheit trennen bzw. trennten, ist das Bewusstsein von der Diskontinuität zum „Alten Regime“ besonders ausgeprägt. Der in Ankara lehrende Kindheitsforscher Bekir Onur konstatiert in einer 2005 erschienenen Monographie, dass sich im Bereich der Erziehung in der Türkei für die Kinder am wenigsten, auf dem Gebiet des Spielens aber am meisten verändert habe. Im Gegensatz zum Westen seien Elemente wie persönliche Autonomie, Eigenschöpferisches und Kritisches nach wie vor kaum sichtbar. Hingegen lebe ein System des Auswendiglernens und der körperlichen Strafen fort. Das „Buch“ verkörpere weiterhin die Religion, nicht die Wissenschaft. Noch lägen erst zwei oder drei Generationen hinter der Zeit, als der Übergang von der traditionellen Schule, in der die Kinder mittels des Koran alphabetisiert wurden, zur modernen Schule gleichgesetzt wurde mit der „Aufgabe des Islam und dem Eintreten in die Welt der Ungläubigen.“ (...)
Wer sich mit der Geschichte „europäischer“ Kindheiten befasst, wird nicht alle Erinnerungen als türkischen „Sonderweg“ auffassen. Grundschulen, in denen der Lehrer seinen Wohn- und Schlafraum als Schulzimmer benutzte, kannte noch das Berlin des frühen 19. Jahrhunderts und bei der Suche nach Ehepartnern wurde auch in Deutschland noch lange von Elternseite nachgeholfen. Modern sind unsere Biographien vor allem dort, wo ihre Autoren den eigenen Lebensweg (im Sinne Nikolaus Luhmann) als „selbst hergestellt“ konstruieren. Mit anderen Worten, wo sie Wahlfreiheiten bei wesentlichen Weichenstellungen in ihrem Lebenslauf nutzten. Dennoch, so denken wir, vermitteln die Texte noch genügend einmalig Türkisches.”
Autorinnen und Autoren der Anthologie: